Neuland: Unternehmenswelten, die sich an den Grundprinzipien des Lebens orientieren.

In den über acht Jahren, in denen ich mein mittelständisches, produzierendes Familienunternehmen gemeinsam mit meiner Frau schrittweise in eine gänzlich neue Kultur geführt habe[1], durfte ich lernen, klassische «Geländer» loszulassen: Keine Vision in der Zukunft, sondern eine Identität im Jetzt … keine Organigramme und Stellenbeschreibungen, sondern ein Tun, das sich an den Fähigkeiten und Interessen der Menschen orientiert … keine Hierarchie, sondern Eigenverantwortung und Selbstorganisation, die alle Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung bietet … keine klassischen Ziele und Budgets, sondern Vertrauen und die Frage, was es jetzt braucht.
Was der Auslöser für diesen Wandel war? Abgesehen von einem eigenen Wertewandel war es nicht die Frage, was ich tun muss, um erfolgreich zu sein, sondern die Frage, was ich tun muss, damit es sich richtig anfühlt.
Rudolf Steiners Neuland
Schon viel Veränderung und die Bereitschaft, in den Fluss des Lebens zu gehen, würde man meinen. Ja, das stimmt. Und trotzdem hat die unglaubliche Dynamik der letzten Jahre mit all‘ seinen Krisen und Verwirrungen und das Bewusstsein, dass alte Handlungsmuster nicht mehr funktionieren und geglaubte Linearitäten nicht mehr zutreffen, einen inneren Ruf nach Orientierung hervorgerufen. Wo gehen wir hin – als Menschen und auch in unserem Wirtschaften? Eine Aussage von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, hat mich in dieser Frage berührt und das Potenzial zu einem Leitstern in unserer Zeit der Transformation:
«In Zeiten in denen Niedergangskräfte dominieren, kommt es auf den ganzen Menschen an, auf den Entschluss, nicht mit dem Strom und nicht gegen den Strom zu schwimmen, sondern Neuland zu schaffen, in sich selbst, und in seinem Wirkungskreis».
Neuland – quo vadis
Mir wurde schlagartig klar, die Veränderung kommt nicht über das Außen – zu komplex, zu verschachtelt, zu egoistisch, viel zu sehr von rein kognitivem Denken ist unsere gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Welt geprägt. Es braucht im übertragenen Sinne «Neuland» – ein neues Bewusstsein, neue Wege, die bei einem selbst beginnen und durch das Tun dann ganz automatisch im eigenen Wirkungskreis ausstrahlen. Die Frage «was hätten wir für eine Wirtschaft, wenn wir an Entfaltung und Lebendigkeit interessiert wären, und nicht vorrangig an Ausbeutung, Profit und quantitativem Wachstum?», würde einen völlig neuen Raum eröffnen.
Wir müssen über Schmetterlinge reden
Diesen Satz hatte ich kürzlich in einem Traum vor Augen. Sofort war mir dessen Bedeutung klar: Wir stehen an der sprichwörtlichen Zeitenwende. Nicht ein wenig Veränderung, nein, schlichtweg eine Metamorphose – im übertragenen Sinne von der Raupe zum Schmetterling – braucht es jetzt. Im wirtschaftlichen Kontext sehe ich ein grundlegend neues Wertefundament als Basis für ein lebensfreundlicheres Wirtschaften, das bildlich gesehen für das Schmetterlingssymbol steht.
Zeit für ein neues Wertefundament
Wie ein lebensfreundlicheres Wirtschaften aussehen könnte? Eine schrittweise Abkehr von reinem Profit- und Wachstumsdenken, hin zu Themen wie Entfaltung, Lebendigkeit und Verbundenheit würde unser Bewusstsein und unseren Denk- und Handlungsrahmen grundlegend verändern. Zu abstrakt, mögen jetzt Zweifelnde einwerfen. Ist es nicht, sage ich. Wir versuchen beispielsweise, das Credo «Gemeinsame Potenzialentfaltung anstelle von Wettbewerb» in der Zusammenarbeit mit unseren Partnern umzusetzen. Vielleicht funktioniert es nicht immer, aber als Richtung auf alle Fälle und jedes Mal, wenn es gelingt, tut es uns Menschen gut.
Wertefundament und die Rolle von Familienbetrieben
Mir scheint, die beste Voraussetzung dafür, voranzugehen, und ein solches Neuland umzusetzen, haben Familienbetriebe. Keine profitorientierten Aktionäre und Aktionärinnen, kein Denken bis zum nächsten Quartalsbericht, kein permanenter Wachstumszwang stehen einer solchen Neuorientierung im Wege. So habe auch ich es selbst als Unternehmer in zweiter Generation erlebt: Familienunternehmen sind in der Lage, Prototypen einer neuen Welt zu entwickeln. Es ist die Veränderung von Innen, nicht das verzweifelte Warten auf die Veränderung im Außen, die vielleicht nicht kommt, und wenn sie kommt, vielleicht nicht konstruktiv und lebensfreundlich sein wird. Schön, wenn der ein oder die andere Familienunternehmer:in auch Freude daran hat, dieses Neuland mitzudenken.
Gerhard Filzwieser ist Inhaber eines mittelständischen Industrieunternehmens in Österreich. Als gelernter Betriebswirt und begeisterter Sportler hat er sich lange Zeit an «höher, schneller, weiter» orientiert. Ein persönlicher Wertwandel, der ihn auch weg vom rein kognitiven Denken und hin zu Intuition und Gefühl und zu künstlerischen Aktivitäten führte, hat seinen Blick auf das unternehmerische Tun verändert. Es geht dabei vor allem um die Rolle des Menschen. Aber auch das Bewusstsein um die Verbundenheit alles Lebendigen hat ihn schrittweise geprägt. Zuletzt beschäftigt ihn immer mehr das Thema, wie Fragen des Menschseins und Sinnfragen mit unserem Wirtschaften zu verbinden sind und wie man hierfür Brücken bauen kann. Brücken unter Berücksichtigung von Anschlussfähigkeit, die es braucht um Menschen zu unterstützen, in neues Bewusstsein und Tun zu finden. Das hat er sich mit seiner Frau Ilona zum Ziel gesetzt. Gemeinsam haben sie dafür ein Veranstaltungsformat mit dem Titel NEULAND entwickelt. In Ko-Kreation wird dabei eine Gruppe von Entscheidungsträger:innen Utopien und Prototypen für lebensfreundlichere Unternehmenswelten finden – eine Lernreise ohne fixiertes Ende. Gemeinsam mit FUTUN denkt Gerhard Filzwieser gerne den Ansatz des unternehmerischen Tuns zusammen mit dem «Biotop Familie». Das erscheint ihm die einzig richtige Perspektive im Kontext des Familienunternehmertums zu sein.
1 Vertiefend erzähle ich von diesem grundlegenden Wandel auch in «Unbequeme Gedanken». Das Buch ist beispielsweise hier zu finden.